Der Gegeißelte Heiland auf der Wies

Künstlerisch armselig, doch für die Menschen voller Gnaden

Das Tränenwunder am 14.Juni 1738


Als Wunder bezeichnen wir meist ein Ereignis, dessen Entstehung wir uns nicht erklären können, weil es der menschlichen Vernunft und Erfahrung sowie den Naturgesetzen widerspricht. Dabei war für die Menschen in Antike und Mittelalter die Grenze zwischen „Möglichem“ und „Unmöglichem“ noch weitaus durchlässiger, denn viele Phänomene waren noch nicht erforscht und somit auch nicht erklärbar. Heute stellt sich dies ganz anders dar; immer aber ist es der Meinung und Einschätzung des Einzelnen überlassen, was (für ihn) wunderhaft ist. Dementsprechend wurde auch das „Tränenwunder in der Wies“ mit größter Zurückhaltung behandelt.

Die Übertragung des gegeißelten Heilandes von Steingaden in die Wies - erwartet von der Familie Lory

 

Der Heiland in der Wies

Am 4. Mai 1738 hatte die Familie Lory die Figur eines gegeißelten Heilandes aus dem Kloster Steingaden in ihren Bauernhof in die Wies gebracht und sie als Andachtsbild in der Schlafkammer aufgestellt. Die Figur war von 1732 – 1734 bei der Karfreitagsprozession mitgetragen und dann auf dem Speicher abgestellt worden „wegen ihres geringen Ansehens.“ Maria Lory hatte dann den Wunsch geäußert, die „Bildnuß“ mit in die Wies nehmen zu dürfen, was ihr auch gewährt wurde.

 

Die Wieshofbäurin Maria Lory mit Feldkapelle (rechts im Hintergrund) und Bauernhaus

 

Das Wunder in der Wies


So wird das geschehen im Mirakelbuch der Wieskirche „Neu-entsprossene Gnaden-Blum auf der WIS“ aus dem Jahr 1746 beschrieben:
„Allda verspührte sie den 14.Brachmonath, als an dem Sambstag Abends, und darauf folgenden Sonntag fruhe einige Tropffen in dem Angesicht der Bildnuß, welche sie vor Zäher haltete. Wußte derohalben vor Schröcken ihr selbsten nit zu rathen, sondern laßte gleichwohl ihren Mann die abhangende Tropffen abtrucknen. Sie aber verfügte sich des anderen Tags nach dem Closter Steingaden, zeigte solches erstlich ihrem Beicht-Vatter, alsdann Ihro Hochwürden und Gnaden Herrn Praelaten an.
Es wurde derohalben in dieser Sach mit aller Behutsamkeit gehandlet, und erstlich der Bäurin auch ihrem Mann sambt allen Hausgenossenen von Stund an verbotten diese Begebenheit (seye selbe wie sie wolle) außzusagen. Andertens wurde diese Bildnuß ohne eintziges Absehen, Erwögung oder Behertzigung dises Umstands glathin, wie zuvor und gantz gleichgültig in der Cammer dieser Bäurin bey anderthalb Jahr lang gelassen, und auf solche Weiß und Zeit ohne menschliche Beihülff zu erwarten, was GOTT ferners zu seiner Ehr verordnen werde, und ob diese Begegebenheit ein wahres oder nur eingebildetes Zeichen seye, daß die Göttliche Barmherzigkeit allda in dieser Bildnuß seine absonderliche Gnaden außtheilen wolle.“ (Gnadenblum, S. 24 f)

Das Kloster Steingaden um 1750 - Ausschnitt aus einer Darstellung Norbert v. Xanten

 

Der Umgang des Klosters mit der Begebenheit
Mit seiner Zurückhaltung wollte das Kloster Steingaden sicher gehen, dass nicht eine Attraktion aufgebracht würde, die eigentlich jeglicher Substanz entbehrt. Deshalb wurde der Gegeißelte nach 1 ½ Jahren auch „abermahl ohne eintzige Feyerlichkeit oder Absehen“ in eine zwischenzeitlich erbaute Feldkapelle verbracht, „um auf solche Weiß keiner Neuerung Anlaß zu geben, sondern vilmehr der Göttlichen Anordnung alleinig alles heimzustellen.“ (Gnadenblum, S. 26). Die Schar der Wallfahrer wuchs aber ungeachtet solch verhaltener Informationspolitik ständig an, genauso wie die Zahl der „so zahlreich empfangene Gnaden und Gutthaten an Seel und Leib der bey dieser Bildnuß Hilff suchenden andächtigen Christen“.
Als es dann um den Bau einer Wallfahrtskirche ging wollte es der Bischof von Augsburg im Herbst 1745 genau wissen und setzte zu einer genauen Untersuchung des Wunders eine hochkarätige Kommission ein. Letztlich fand aber auch sie keine endgültige Antwort auf die Frage nach den wundersamen Tränen. Was aber sehr wohl erkannt wurde war, „dass es schier unmöglich scheinet, daß in einer Sach so vil Christgläubige sollten betrügen, oder betrogen werden, aus welchen dann erhellet, dass der allgütigste GOTT an disem Gnaden-Orth sonderbahr gnädig sich zeige.“ (Gnadenblum S. 34)
Dies gilt bis heute!
Und so ist es eben auch der Meinung und Einschätzung jedes Einzelnen überlassen, ob das Wunder mehr in den Tropfen im Gesicht des Gegeißelten, im Trost und den Wohltaten für die Pilger, in der grandiosen Kunst des Gotteshauses oder… gesehen wird. Ausgangspunkt all dessen war und bleibt der Glaube der Maria Lory an die wundersame Zuwendung Christi.